Stell dir vor es ist Uni und keiner geht hin. Der Bildungsstreik reicht von Kiel über Berlin nach München - und findet mit der Schweiz, Italien, Großbritannien, Polen, Serbien, Albanien sowie den Niederlanden auch im Ausland seine Anhänger. Bundesweit forderten zehntausende Studierende sowie Schülerinnen und Schüler in mindestens 35 Städten mit Demonstrationen und Blockadeaktionen bessere Bildungsbedingungen.
An Deutschlands Universitäten und Hochschulschulen ist nicht erst seit gestern der Bildungsnotstand ausgerufen. Schon 1968 gingen die Studierenden für bessere Studierendenbedingungen auf die Straße und nun 41 Jahre später tragen die Demonstranten zwar andere Kleidung, doch halten sie Banner und Transparente mit ähnlichen Slogans in die Höhe. Auch die Protestformen mit Besetzungen von Unihörsälen, Einrichtung alternativer Lehrformen, Demonstrationen oder Unterschriftenaktionen ähnelt frappierend. Neu hinzu treten spontane Flashmobs und die Vernetzung mittels Internet.
Doch was wollen diese jungen Menschen? Warum sind sie so unzufrieden? „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut“, so skandierten am 17. Juni 2009 mehr als 270.000 Schülerinnen und Schüler sowie Studierende dieser Republik. Im November 2009 wiederholen sich die Bilder. Tausende Demonstranten demonstrierten in Baden-Württemberg gegen die verfehlte Bildungspolitik der CDU Regierung. Allein in Freiburg zogen rund 5000 Studenten sowie Schülerinnen und Schüler in einem bunten Zug durch die Innenstadt. In Heidelberg waren mehr als 1000 für bessere Studienbedingungen und mehr Engagement in der Bildungspolitik unterwegs. Klingt das nach Bildungsland Baden-Württemberg?
Eine Hauptforderung ist die soziale Öffnung der Hochschulen. Schon heute ist der Gang zur Universität für Abiturienten aus sozialschwächeren und bildungsfernen Familien schwierig. Doch Zulassungsbeschränkungen und Studiengebühren verstärken diese soziale Selektion, daher fordert das Aktionsbündnis Bildungsstreik den Abbau von Zulassungsbeschränkungen, den Ausbau von Studienplätzen sowie die Abschaffung von Studiengebühren sowie die gesetzlich verankerte Gebührenfreiheit von Bildung. Bildung als Grundrecht muss vom Kindergarten, über Schule bis zur Universität kostenfrei sein. Denn die 500 € Studiengebühren pro Semester sind nicht alles, was an finanzieller Belastung aufgebracht werden muss. Hinzu kommen in Baden-Württemberg 99€ Verwaltungsgebühr und Studentenwerksbeitrag und etwa 130€ Semesterticket. Da ist aber noch kein einziges Buch gekauft, keine Miete bezahlt und noch nichts gegessen. Kein Wunder, dass so viele Studis sich von einem Nebenjob zum anderen angeln, wenn Papa nicht gerade das dicke Scheckkonto bieten kann. Chancengleichheit und Gerechtigkeit? – Fehlanzeige!
Ein weiterer Kritikpunkt ist das neue Bachelor- und Mastersystem, deren Abschaffung bzw. radikale Reform gefordert wird. Der sechssemstrige Bachelor lässt in der bisherigen Form nahezu keine Zeit für Praktika, Auslandssemester oder ehrenamtliches Engagement. Ferner fordern die Demonstranten die Abkehr vom Bachelor als Regelabschluss. Der weiterführende Master sollte ohne Zulassungsbeschränkungen allen möglich sein. Weiterhin beanspruchen sie das Ende der Verschulung des Studiums, die mögliche Ausweitung der Regelstudienzeit, genauso wie die Möglichkeit individueller Schwerpunktsetzung im Studium und die tatsächliche Umsetzung der Mobilität zwischen den Hochschulen, denn ein Wechsel ist seit der Einführung des neuen Systems noch schwieriger geworden. Wer Geschichte in Tübingen studiert, lernt komplett andere Studieninhalte wie in Heidelberg oder Mannheim. Bei einem Wechsel müssen viele Veranstaltungen nachgeholt werden, das verzögert das Studium. Man hat das Gefühl jede Uni braut ihr eigenes Süppchen.
In Baden-Württemberg demonstriert man jedoch auch für die Demokratisierung des Bildungssystems, vor allem die Mitbestimmung aller Beteiligten im Bildungssystem, u.a. durch Viertelparität in den Hochschulgremien sowie mittels der Einführung verfasster Studierendenschaften. Die Schülerinnen und Schüler gehen gegen G8 und für kleinere Klassen auf die Straße. Doch wie reagieren die Verantwortlichen? Die im Ländle allseits bekannte Bundesministerin für Bildung und Forschung Schavan bezeichnete im Juni 2009 die Demonstrationen als „gestrig“. Dies sei der falsche Weg, kritisierte auch vor einigen Tagen der baden-württembergische Wissenschaftsminister Peter Frankenberg "Wir brauchen Sachargumente statt Fundamentalopposition." Für Dreistigkeit und völliges Unverständnis gibt es in der Schule nur eine Note: Setzen 6. Klassenziel nicht geschafft. Wir brauchen mehr als nur Exzellenzinitiative, mehr als nur ein paar Gießkanneninvestitionen, sondern eine breite Bildungsförderung. Aber in Baden-Württemberg investiert die CDU die dringend benötigten Gelder erst einmal in eine Werbekampagne zum Bildungsaufbruch.
Studierende sowie Schülerinnen und Schüler haben keine Lobbygruppen. Sie können das Streikrecht nur bedingt wahrnehmen, dennoch sind sie die Zukunft dieses Landes. Von ihrem Forscherdrang, ihren Innovationen, Ideen und Visionen hängt das Wohl aller ab. Bildung ist ein demokratisches Gut. Bildung ermöglicht Partizipation und kritisches Hinterfragen. Die Demonstranten benötigen daher nicht nur mediale Aufmerksamkeit, sondern auch unsere uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung. Darum geben wir diesen jungen Menschen eine Stimme: Der AsF Landesvorstand Baden-Württemberg zeigt sich solidarisch mit allen Schüler und Schülerinnen sowie Studierenden, die für ihre Zukunft kämpfen und fordert ein radikales Umdenken in der Bildungsdebatte.
Ein Kommentar von Melanie Seidenglanz erschienen in: ASF Aktuell Nr.5 / 2009